Unbesungene Helden

Unbesungene Helden während des 2. Weltkrieges

Oft entsteht der Eindruck, dass grundsätzlich jeder, der die Zeit des Nationalsozialismus miterlebt hat und nicht zu den Opfern gehörte, entweder Täter war oder stillschweigend alles geduldet, hat was in dieser Zeit passierte. Diesem "Generalverdacht" widersprechen wir ausdrücklich.

Auch in unserer Stadt gab es Menschen, die sich ihre Menschlichkeit bewahrt hatten und versucht haben, ihre Mitmenschen vor den Nazis zu beschützen.

Leider gibt es über diese Mitmenschen kaum Aufzeichnungen und ebenso wie die Opfer geraten auch diese sichtbaren Zeichen von Mut und Ehre in Vergessenheit.


Die Gedenkstätte für Holocaust und Heldentum (Yad Vashem) startete 1963 ein weltweites Projekt, die wenigen, die den Juden in den dunkelsten Stunden ihrer Geschichte zur Seite standen, mit dem Titel „Gerechter unter den Völkern“ zu ehren. Zu diesem Zweck richtete Yad Vashem eine öffentliche Kommission unter Leitung eines Richters des Obersten Gerichtshofs ein, das jeden Fall untersucht und verantwortlich ist für die Vergabe des Titels. Diejenigen, die anerkannt werden, bekommen eine Medaille und eine Ehrenurkunde, und ihre Namen sind auf dem Berg des Gedenkens in Jerusalem verewigt.


Die nachfolgende Geschichte aus Viersen beschreibt genau so einen "Gerechten unter den Völkern", jemanden dessen Handeln, Vorbild und Mahnung zugleich ist.

Die Geschichte des Süchtelner Unternehmerehepaars Gertrud und Ludwig Bochmann.

Recherchiert und erzählt von Uwe Micha

Viersen-Süchteln/Krefeld (uTm) Im Juni 2019 wurden in Verbindung mit dem Neubau einer Kindertagesstätte an der Ratsallee in Süchteln, auf dem dahinterliegenden, bis dahin noch zusammenhängenden, Grundstück eine neue Zufahrt und Garage gebaut. Bei den dazugehörigen Ausschachtungsarbeiten stieß man unerwartet in ca. 1m Tiefe auf ein Betonfundament, das sich als die ca. 40 cm dicke, mit Krupp‘schen Eisenbahnschienen verstärkte Decke eines Bunkers aus dem 2. Weltkrieg entpuppte. Nach ersten mühseligen Abbrucharbeiten mit schwerem Gerät zeigte sich in dem ca. 2 x 3 m großen Bunkerraum eine Stahltüre an der im 90 Grad Winkel eine Treppe nach oben führte, sowie Kabel und Schalter aus den 1930er Jahren. Ringsherum war in Augenhöhe ein Streifen selbstleuchtender Farbe auf die Wand gemalt, der während eines möglichen Ausfalls der Beleuchtung zur Orientierung diente. 


Der Eigentümer des Grundstücks, der seit 50 Jahren nichts von dem unterirdischen Bauwerk wusste, stoppte kurzfristig die Bauarbeiten und informierte Uwe Micha vom Verein „Förderung der Erinnerungskultur e.V. Viersen 1933–45“. Diesem gelang es noch einige Fotos zu machen, bevor die Arbeiten fortgesetzt und der Bunker verfüllt wurde. Einen Tag später wurde bereits mit dem Garagenbau begonnen und es war oberirdisch nichts mehr von dem Bunker zu sehen.



An dem unterirdischen Bauwerk fiel aber sofort auf, wie auch auf dem Bild oben zu sehen ist, dass sich an einer Stelle in der Betonwand ein ca. 80 x 120cm großes ungewöhnliches Loch befand, welches deutlich sichtbar mit Ziegelsteinen vermauert war. Weitere Untersuchungen und Grabungen auf dem Grundstück erbrachten einen zuerst nicht erklärbaren Befund. Hinter den Ziegelsteinen befand sich eine ungefähr 30 m lange Betonröhre mit einem Durchmesser von mind. 80 cm, breit genug, um hindurch zu kriechen. Die Röhre endet heute an der Ecke der Mauer zum ehemaligen evangelischen Friedhof Süchteln an der Merianstraße. Ob sie unter der Mauer hindurch führte, ist nicht mehr nachvollziehbar. Das auf der anderen Seite der Mauer gelegene Grabgrundstück ist jedenfalls ungenutzt. Aber leider sind alte Belegungspläne des Friedhofes auch nicht mehr vorhanden, da der Friedhof im Jahre 1989 von der Gemeinde aufgegeben und an die Stadt Viersen verkauft wurde. Der größte Teil der unterirdischen Röhre, bei der es sich nur um einen Fluchttunnel gehandelt haben kann, wurde bereits 2018 zerstört, als auf dem Grundstück mehrere Wurzeln von 50 Jahre alten Nadelbäumen entfernt wurden, die bei einem Sturm umgefallen waren. Die Bäume standen an der ehemaligen Grundstücksgrenze, genau über dem Verlauf der Betonröhre. Bis ca. 1970 war der gesamte hintere Teil des Grundstücks unbebaut und stand voller Obstbäume (wie auf dem Bild unten, hinter dem zur Fabrik gehörenden Gewächshaus, zu sehen ist). Einen Fluchttunnel an einem unterirdischen Bunker kennt man z.B., wenn über dem Bunker ein Gebäude stand, dessen Trümmer bei einem Bombentreffer den Eingang hätten verschütten können. Aber in einem Obstgarten besteht für einen Fluchttunnel keine Notwendigkeit, es sei denn, jemand hätte unerkannt aus dem Bunker fliehen müssen, falls dieser z.B. polizeilich durchsucht werden sollte.

Im vorderen Teil des Grundstücks stand ein altes Fabrikgebäude aus dem Jahre 1925. Darin befand sich bis Ende der 1950er Jahre eine Textildruckerei. Danach wurde das Gebäude noch in unterschiedlichster Weise gewerblich genutzt, bis es 2018 abgerissen wurde und dem jetzigen Kita-Neubau weichen musste.

Bei der Suche nach einer Erklärung für die Funde erinnerte sich Uwe Micha an eine Geschichte, die er vor vielen Jahren einmal gehört oder gelesen hatte. Daraufhin durchforstete er die gesamte Büchersammlung über seine Heimatstadt Süchteln und wurde schließlich fündig. In einem 1992 im Eigenverlag eines Anwohners entstandenen Büchlein über die Ratsallee [Q1] fand sich die entscheidende Passage. 

Denn dort stand in einer Auflistung über die Besonderheiten der Straße und ihrer Anwohner: „[Da waren]..eine Textilveredlungsfirma (Bochmann), in deren Fabrikgelände von 1943-1945 ein Jude aus Krefeld (…) versteckt gehalten und mit Nahrung und Kleidung versorgt wurde. Ende des Jahres (19)45 kehrte er wieder nach Krefeld zurück“.

Micha nahm daraufhin direkt telefonisch Kontakt zu dem Autor des Buches auf und dieser konnte zusätzliche Details beitragen und Namen von möglichen weiteren, noch lebenden Zeitzeugen nennen. Nach vielen Telefonaten und noch mehr E-Mails wandte sich Uwe Micha dann an das NS-Dokumentationszentrum Villa Merländer in Krefeld, zu dem bereits von Vereinsseite aus ein guter Kontakt bestand. Fr. Sandra Franz, Leiterin der Einrichtung, sagte eine Zusammenarbeit in dieser Angelegenheit umgehend zu und es dauerte auch nur wenige Tage, da hatte der Historiker Burkhard Ostrowski (langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter der Villa Merländer) die in diesem Fall relevanten Daten und Dokumente gefunden und Originalschriftstücke im Archiv eingesehen und kopiert.

Das NS-Dokumentationszentrum in der Villa Merländer hatte Anfang der 1990er Jahre einen Radioaufruf im WDR gestartet, bei dem es um „Unbesungene Helden der NS-Zeit“ ging. Die Hörer hatten dadurch die Möglichkeit, ihre Geschichten zu bislang unbekannten Helden aus der Weltkriegszeit den wissenschaftlichen Mitarbeitern zu erzählen.

Unter anderen meldete sich auch Mathias M. aus Süchteln, der am 13.07.1993 folgendes zu Protokoll gab: „…daß Herr Ludwig Bochmann, Inhaber einer Textildruckerei, einen befreundeten jüdischen ‚Industriellen‘ aus Krefeld in den Kellerräumen seiner Fabrik in Süchteln von Herbst 1944 bis Kriegsende versteckt habe.“

Für den 05.05.1994 fand sich dann noch ein Auszug in einem Kurzprotokoll zu dem o.g. Forschungsprojekt „Unbesungene Helden“: „Ludwig Bochmann – Bochmann versteckte in Süchteln einen jüdischen Textilkaufmann namens Leven. Ein Interview mit Bochmanns Ziehsohn, Hans Hillers.“ 

Währenddessen konnte Uwe Micha in Süchteln einige Informationen über das Ehepaar Bochmann zusammentragen. Gertrud Neumeyer, geboren 1881 in Krefeld, heiratete 1905 auf dem Standesamt Krefeld-Mitte den 1883 ebenfalls in Krefeld geborenen Ludwig Bochmann. 1924 kauften sie in Süchteln an der Ratsallee (damals in der neu gebauten sog. Süchtelner „Neustadt“) mehrere Grundstücke. Auf dem einen, am heutigen Busbahnhof gelegen, ließen sie ihr Wohnhaus (Ratsallee 13) errichten und auf einem anderen großen Grundstück weiter hinten auf der Ratsallee (Hausnummer 33a) ein Fabrikgebäude. Der gelernte Chemiker-Kolorist Ludwig Bochmann meldete noch im selben Jahr dort ein Gewerbe für eine Textildruckerei an. Bochmann hatte zu dieser Zeit enge Kontakte zur Textilfachschule in Krefeld, wo er zeitweise auch unterrichtete. Befreundet war er mit Professor Peter Bertlings, der von 1943 bis 1948 die Leitung der Meisterschule für das gestaltende Handwerk in Krefeld inne hatte.

Die Firma Bochmann in Süchteln entwickelte sich im Laufe der Jahre so gut, dass sie zeitweise bis zu 70 Beschäftigte zählte. Laut einer Festschrift der Stadt Süchteln aus dem Jahr 1958 „[sind] Bochmann-Drucke auf Seiden und Samten […] überall bekannt“. 

Gertrud und Ludwig Bochmann wuchsen in Krefeld unter 3 verschiedenen deutschen Kaisern auf. Sie erlebten den 1. Weltkrieg, die Besetzung des Rheinlandes, die große Inflation, in Süchteln die Weimarer Republik, den Aufstieg der Nationalsozialisten, den 2. Weltkrieg und persönliche Schicksale. 1928 starb ihr einziger Sohn. Das katholische Ehepaar Bochmann lebte zurückgezogen und unauffällig, aber beide galten als höflich und freundlich. Ludwig schenkte den Nachbarskindern oft Äpfel oder Birnen aus seinem Obstgarten und unterstützte die Witwen ehemaliger Freunde finanziell. Jeden Sonntag gab er am Fenster seines Hauses einem Waisenjungen Geld für das örtliche Kino. Nie drängten sie in die Öffentlichkeit oder prahlten mit dem Erreichten. Ludwig Bochmann verstarb 1957 im Alter von 74 Jahren in seiner Wohnung auf der Ratsallee 13. Seine Witwe Gertrud verkaufte daraufhin den Betrieb und lebte alleine in ihrem Haus, wo sie 1969 im Alter von 87 Jahren verstarb. Beide wurden auf dem neuen Teil des Hauptfriedhofs in Krefeld bestattet.

Burkhard Ostrowski machte sich mittlerweile im Krefelder Stadtarchiv auf die Suche nach dem „jüdischen Industriellen Textilkaufmann aus Krefeld namens Leven“. In den Entschädigungsakten wurde er fündig.

Bei „Leven“ handelte es sich um den gelernten Kaufmann Friedrich (gen. Fritz) Leven, geboren am 23.01.1889 in Krefeld, verheiratet mit Clara (geb. Sillmanns) aus St. Hubert im Kreis Kempen. Leven war von 1917 (nach der Entlassung vom Militär) bis 1932 bei der Seidenweberei Elsberg und Gompertz, ab 1924 sogar als gleichberechtigter Mitinhaber. Seit 1933 litt er unter der allgemeinen Judenverfolgung und am 30. September 1938 musste er sein Geschäft in Krefeld schließen. Leven hatte von da an bis März 1942 keine Beschäftigung und kein Einkommen mehr. Bei einem Fliegerangriff auf Krefeld am 22. Juni 1943 wurde das Wohnhaus von Leven komplett zerstört und er verlor Hab und Gut.

Fritz Leven sollte als sog. "privilegierter Jude“ (d.h. er war mit einer Christin verheiratet und blieb deshalb lange von der Deportation verschont) im Herbst 1944 doch noch von der Gestapo verhaftet und in das Konzentrationslager nach Theresienstadt deportiert werden. Wie wir aus der eidesstattlichen Erklärung von Wilhelm Neumeyer [Q6] wissen, wandte sich Leven, um der bevorstehenden Deportation zu entgehen, am 17.09.1944 in Süchteln an Ludwig Bochmann, als sich dieser gerade in seinem Garten befand, eben jenem Garten hinter dem Fabrikgebäude, wo 2019 der Bunker entdeckt wurde. Leven wurde versteckt und fast 6 Monate lang von dem Ehepaar Bochmann mit Nahrung und Kleidung und allem Notwendigen versorgt. [Q6]

Der o.g. Wilhelm Neumeyer gibt sogar an, dem Fritz Leven in dieser Zeit zweimal die Haare geschnitten zu haben, „da sie schon unansehnlich lang geworden waren“. Beim Einmarsch der US-Truppen in Süchteln am 01.03.1945 konnte Leven sein Versteck endlich wieder verlassen.

Alsbald kehrte er nach Krefeld zurück und im Oktober 1945 war er der erste Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Krefeld, Vorsitzender des Ausschusses für rassisch und religiös Verfolgte sowie Mitglied des Wiedergutmachungsausschusses der Stadt Krefeld. In seiner Privatwohnung in der Bismarckstr. 118 empfing er zu dieser Zeit die Krefelder Überlebenden der Konzentrationslager. Er selbst überlebte den Holocaust dank der Hilfe von Gertrud und Ludwig Bochmann in Süchteln. Besonders, wenn man bedenkt, dass der NSDAP-Ortsgruppenleiter von Süchteln, Josef Claßen, sozusagen ein Nachbar war, denn sein Haus auf der Ratsallee lag genau zwischen dem Wohnhaus von Bochmann und dem Fabrikgebäude. D.h., sie gingen mehrfach am Tag an seinem Büro vorbei. Fritz Leven verstarb am 07. November 1962 im Alter von 73 Jahren in Krefeld.

Der Verein „Förderung der Erinnerungskultur e.V. Viersen 1933-45 unter der Leitung von Mirko Danek [Q8] und das NS-Dokumentationszentrum Villa Merländer [Q9] in Krefeld werden nun gemeinsam einen Antrag an die Internationale Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem stellen, damit Gertrud und Ludwig Bochmann in die Liste der „Gerechten unter den Völkern“ aufgenommen werden.

Info: ‚Die Gedenkstätte für Holocaust und Heldentum (Yad Vashem) startete 1963 ein weltweites Projekt, die wenigen, die den Juden in den dunkelsten Stunden ihrer Geschichte zur Seite standen, mit dem Titel „Gerechter unter den Völkern“ zu ehren. Zu diesem Zweck richtete Yad Vashem eine öffentliche Kommission unter Leitung eines Richters des Obersten Gerichtshofs ein, das jeden Fall untersucht und verantwortlich ist für die Vergabe des Titels. Diejenigen, die anerkannt werden, bekommen eine Medaille und eine Ehrenurkunde, und ihre Namen sind auf dem Berg des Gedenkens in Jerusalem verewigt.‘ [Q10]

Süchteln im Januar 2021

[Q1] Eine Straße – Die Geschichte der Ratsallee / Herbert Lenders / Eigenverlag 1992 – Druck: Grafik Druck Müsers Süchteln

[Q2] Aufzeichnungen aus dem Archiv des NS-Dokumentationszentrums Villa Merländer / Krefeld 1993

[Q3] Aufzeichnungen aus dem Archiv des NS-Dokumentationszentrums Villa Merländer / Krefeld 1994

[Q4] Süchteln 1558 – 1958 Eine Festschrift der Stadt / Schriftenreihe des Landkreises Kempen-Krefeld 1958

[Q5] Entschädigungsakte Friedrich (Fritz) Leven / Stadtarchiv Krefeld 18/8880

[Q6] Entschädigungsakte Friedrich (Fritz) Leven / Stadtarchiv Krefeld 18/8880

[Q7] Entschädigungsakte Friedrich (Fritz) Leven / Stadtarchiv Krefeld 18/8880

[Q8] http://www.erinnerungskultur-viersen.de

[Q9] http://www.villamerlaender.de

[Q10] https://www.yadvashem.org

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