Juden

Verfolgung der Juden in Viersen
am Beispiel von Familie Katzenstein

Überregionales
Die jüdische Bevölkerung (die etwa 1 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte) unterlag seit 1933 einem Trommelfeuer von Ausgrenzungsmaßnahmen: Jüdische Bürgerinnen und Bürger wurden aus dem öffentlichen Dienst, den Pflege- und Rechtsberufen verdrängt, sie verloren ihren angestammten Platz im Kulturleben, wurden mit den „Nürnberger Gesetzen" 1935 zu Staatsangehörigen zweiter Klasse erklärt sowie scharfen Kontakt- und Eheverboten gegenüber „Deutschblütigen" unterworfen. Auch in den Schulen setzten die Nationalsozialisten die „Rassentrennung" durch. Boykottmaßnahmen der NS-Partei, die antisemitische Wirtschaftspolitik der Kommunen und der Druck von Banken und Handelskammern veranlassten viele jüdische Geschäftsleute bereits kurz nach der Machtübernahme dazu, ihren Besitz an „arische" Käufer abzugeben. Für alle sichtbar wurde aus der Leonhard Tietz die Westdeutsche Kaufhof AG oder aus dem Duisburger Kaufhaus Gebr. Alsberg das Warenhaus Horten. In Viersen wurde aus Katzenstein Josten.

Völlige gesellschaftliche Isolierung

Während der „Reichskristallnacht" am 9. und 10.11.1938 wurden selbst in den rheinischen Landgemeinden systematisch jüdische Gottes- und Bethäuser, Geschäfte und Wohnungen zerstört und allein im Nordteil der Rheinprovinz über 100 Synagogen in Trümmer gelegt (in der gesamten Rheinprovinz wohl etwa 200). Dem Novemberpogrom folgte die endgültige staatlich gelenkte Enteignung und völlige gesellschaftliche Isolierung. Die verbliebenen Juden, die eine Flucht aus Deutschland nicht mehr geschafft hatten, wurden gekennzeichnet, in separaten „Judenhäusern" untergebracht und durch Verbote und Zwangsarbeit ihrer letzten Bewegungsspielräume beraubt. Ab Oktober 1941 brachten Sonderzüge die rheinischen Juden über die Bahnhöfe in Köln, Düsseldorf oder Koblenz in die osteuropäischen Ghettos und Vernichtungslager (wie Lodz, Minsk, Riga, Izbica, Theresienstadt, Majdanek und Sobibor). Unter Leitung der Gestapo wurden allein von Köln aus etwa 11.000, aus dem Düsseldorfer Gestapo-Bezirk schätzungsweise 6.000 Menschen verschleppt.
Gegen die Diskriminierung der meist assimiliert und bis 1933 sozial anerkannt lebenden rheinischen Juden regte sich kaum Widerstand. Zwar stießen die rabiaten antisemitischen, offen gewalttätigen Aktionen der rheinischen NS-Organisationen bei großen Teilen der – zumal katholischen – Bevölkerung auf Missbilligung. Doch begegneten die „Volksgenossen" der „geregelten", staatlich gelenkten Judenverfolgung gewöhnlich mit Passivität und Indifferenz. Die Ausgrenzung fand zudem viele Profiteure, von den Geschäftsleuten, die sich an der „Arisierung" jüdischer Unternehmen beteiligten, bis zu den „kleinen Volksgenossen", die sich den öffentlich versteigerten Besitz der deportierten Juden aneigneten. Nur wenige bekundeten den Verfolgten ihre Solidarität oder leisteten Hilfe, etwa bei Fluchtversuchen ins westliche Ausland, die viele jüdische Familien vom rheinischen Grenzgebiet aus unternahmen.
Selbst die Kirchen traten bis auf einzelne Pastoren oder Pfarrer nicht offen gegen die Judenverfolgung an. Christlich begründete Einsprüche betrafen eher die Zwangssterilisationen und die Krankenmorde. Vor allem katholische Ärzte und Pfleger versuchten sich der „rassenhygienischen" Politik zu entziehen. Somit fanden die meisten Verfolgten nur im eigenen Umfeld Unterstützung: in Protesten von Verwandten, in einem verstärkten familiären Zusammenhalt – wie er unter Sinti und Roma ausgeprägt war – oder im Gemeinschaftsleben, das die jüdischen Gemeinden entfalteten. Sie kümmerten sich bis zuletzt um Hilfe bei der Auswanderung, Ausbildung, medizinische Versorgung und Fürsorge und bemühten sich zusammen mit dem „Jüdischen Kulturbund Rhein-Ruhr" um die Aufrechterhaltung eines eigenen Kulturlebens.

Widerstand seitens der Juden, gar in konzertierter Weise wie im Warschauer Getto, fand in Viersen nicht statt.

Deportationen aus Viersen erfolgten üblicherweise über den Schlachthof und Güterbahnhof in Düsseldorf-Derendorf.

Eine Viersener Geschichte

Familie Katzenstein

Viersen – Hauptstraße 137/139

Im Jahr 1903 ließ die Fa. Pongs und Zahn ein Wohn- und Geschäftshaus auf der Hauptstraße 137/139 bauen. Zunächst vermietete die Firma die Räume an den jüdischen Kaufmann Carl Frohsinn. Er war im Jahr 1901 nach Viersen gekommen und hatte die Fabrikniederlage (heute Fabrikverkauf) der Fa. Pongs und Zahn auf der Gladbacher Straße übernommen. Direkt nach Fertigstellung des Gebäudes im Herbst 1903 zog er um und eröffnete das Geschäft in den frisch errichteten Räumlichkeiten. Carl Frohsinn war in der jüdischen Gemeinde gut integriert. Er galt als humorvoller, geselliger Mensch. Dennoch zog es ihn und seine Familie zurück ins Ruhrgebiet nach Essen, wo er als Schaufensterdekorateur und als Handlungsreisender tätig war. Die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung zwang ihn und seine Familie zur Emigration. Sie verließen Deutschland und fanden eine neue Heimat in Amerika, wo Carl Frohsinn im Jahr 1955 verstarb. 

Nachfolgender Mieter der Räumlichkeiten auf der Hauptstraße war David Katzenstein. Der jüdische Kaufmann wurde im Jahr 1876 im hessischen Rhina bei Kassel geboren. Er heiratete 1908 die aus Remagen stammende Sophie Faßbender. 1909 wurde Tochter Lieselotte, das einzige Kind des Ehepaars Katzenstein geboren. David Katzenstein eröffnete sein Kaufhaus im Frühjahr 1907. Aufmerksamkeit und Neugier auf sein neues Geschäft erweckte er mit einer interessanten Zeitungskampagne in der Viersener Zeitung. Eine rege Geschäftsbeziehung hatte er u.a. mit der Firma Pongs und Zahn. Im Jahr 1911 verkaufte er sogenannte Lappen, Reste und Fehlware, in einem Zweiggeschäft auf der Clöratherstraße, wo sich auch der Firmensitz der Firma Pongs und Zahn befand. 
David Katzenstein wird als ein sehr ruhiger und freundlicher Mann beschrieben. Kommunionkindern und Konfirmanden, deren Familie sich keine passende Festkleidung leisten konnte, war er stets behilflich und stattete die Kinder mit der entsprechenden Bekleidung aus. Seine Frau Sophie war eine echte Rheinische Frohnatur. Sie liebte Rheinische Traditionen, führte mit Leidenschaft ihren Haushalt und war eine begnadete Köchin. Lieselotte besuchte das benachbarte Lyzeum (Höhere Töchterschule, sie wurde im Krieg durch Bomben zerstört). Da dort zu dieser Zeit nicht die Möglichkeit bestand das Abitur zu machen, wechselte sie auf eine Privatschule im Schweizer Ort Lausanne.
Im Jahr 1919 erwarb David Katzenstein das Haus auf der Hauptstraße von der Firma Pongs und Zahn. Kurz vorher war sein vier Jahre jüngerer Bruder Louis aus dem Kriegseinsatz nach Hause zurückgekehrt. 
Seit dem Jahr 1918, sein Vorgänger Salomon Strauß war verstorben, war der Geschäftsmann Vorsteher der jüdischen Gemeinde Viersens. Er war nun auch für alle organisatorischen Vorgänge der Gemeinde verantwortlich. Auch in Viersen gründete sich der jüdische Männerverein, dessen Vorsitzender er wurde. Dieser Verein, der schon viele Vorbilder in anderen Städten hatte, kümmerte sich um die Bestattungskultur der jüdischen Gemeinde, um die Krankenversorgung, aber auch um die Betreuung von Lehrlingen jüdischen Glaubens. 
Um sein Geschäft zunehmend bekannter zu machen, mietete Katzenstein Ausstellungsräumlichkeiten an der Ecke Heimbachstraße–Hauptstraße an. Im Jahr 1932 heiratete Lieselotte Katzenstein den bekannten Trierer Rechtsanwalt Jakob Voremberg. 
Mit Beginn der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde auch das Leben der Viersener Juden zunehmend schwieriger. Zerstörungen, wie die von Schaufenstern der jüdischen Geschäfte auf der Hauptstraße, waren an der Tagesordnung. Die Regierungspartei ordnete Anfang 1933 auch in Viersen den Boykott von jüdischen Geschäften an, an denen sich die Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt kaum beteiligte. 

Im Jahr 1938 verstärkten sich die Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung. Das Attentat des aus Hannover stammenden polnischen Juden Herschel Grynspan auf den deutschen Legationsrat in Paris Ernst vom Rath lieferte der NSDAP einen Grund für lang geplante Aktionen gegen die jüdische Bevölkerung. Auch in Viersen kam es zu tätlichen Angriffen auf diese Bevölkerungsgruppe. Die Einrichtung des Bethauses auf der Rektoratsstraße und die meisten jüdischen Wohnungen wurden durch SA, SS und HJ zerstört. Dies traf auch David Katzenstein. 

Eine Augenzeugin berichtete:
 „Es bot sich mir ein Bild des Grauens. Die schönen Möbel lagen zerschlagen und umgestürzt durcheinander, die Polstermöbel waren kreuz und quer zerschnitten, Federbetten mit eingemachtem Obst und zerschlagenen Eiern verunreinigt, die Lampen von den Decken gerissen, Wäsche und Stoffe lagen in den Zimmern wild zerstreut umher, es war nicht mal eine ganze Tasse zum Trinken vorhanden. Familie Katzenstein musste sich diese unten vom Geschäftspersonal borgen.“
Die Viersener jüdischen Männer wurden in das Gefängnis nach Anrath verbracht. Die Inhaftierung David Katzensteins dauerte neun Tage, am 19. November 1938 wurde er aus der Haft entlassen.
Schon im Vorfeld hatte Katzenstein Vorsorge für sein Geschäft getroffen. Der Trierer Fritz Jost unterschrieb am 2. Mai 1938 einen Mietvertrag für das Geschäft auf der Hauptstraße. Jost kaufte das gesamte Warenlager der Firma Katzenstein & Co. und eröffnete das Geschäft unter seinem Namen am 23.7.1938. David Katzenstein räumte ihm ein Vorkaufsrecht für sein Haus ein. 
David und Sophie Katzenstein wurde immer klarer, dass sie nicht in ihrer Heimat bleiben konnten. So ergriffen sie die Initiative zur Emigration nach Palästina, wo sich ihre Tochter seit September 1938 mit Ehemann und Sohn bereits aufhielten. Er ernannte einen Verwalter für sein Eigentum, den Bankdirektor i. R. August Peters. Wie alle zur Emigration bereiten Juden, musste David Katzenstein zunächst die Reichsfluchtsteuer und die Dego-Abgabe (Abgabe für den sogenannten Ausfuhrförderungsfond) bezahlen. Die verordnete Judenvermögensabgabe zur Entschädigung des Reiches für die entstandenen Schäden in der Reichspogromnacht, hatte er ebenfalls zu entrichten. 
David und Sophie Katzenstein verließen Viersen schweren Herzens am 2. Februar 1939. Ihr Reisegepäck enthielt nur das, was sie zum Leben benötigten. An Bargeld durften sie jeder 10 RM mit sich führen. 
Louis Katzenstein zog im März 1939 nach Köln, wo er 1941 im Israelitischen Krankenhaus verstarb.
David Katzenstein beauftragte kurz nach seiner Ankunft in Tel Aviv seinen Verwalter, das Haus auf der Hauptstraße zu verkaufen. Bislang hatte der zuständige Reichskommissar einen Verkauf abgelehnt. Im Jahr 1941 wurde zwischen David Katzenstein und Fritz Jost ein Verkaufsvertrag abgeschlossen unter der vorbehaltlichen Zustimmung des Reichskommissars für das feindliche Vermögen. Dieser Kaufvertrag kam nicht zustande, das deutsche Reich verleibte sich das Haus zunächst ein und wurde als Eigentümer in das Grundbuch eingetragen. Schließlich konnte Fritz Jost das Haus 1942 zu einem Preis von 60 000 RM vom neuen Eigentümer, dem Deutschen Reich, erwerben. 

David Katzenstein starb 1948 in Tel Aviv, seine Frau kehrte 1950 nach Deutschland zurück. Sie zog nach Trier zu Tochter, Schwiegersohn und Enkel, die bereits seit dem Jahr 1948 wieder dort lebten. 

Fritz Jost kam bei dem schweren Bombenangriff auf Viersen am 24. Februar 1945 ums Leben. Er hatte im Keller der Höheren Töchterschule Schutz gesucht. Seine Frau Anny überlebte diesen Angriff. Sie führte mit dem aus dem Krieg heimgekehrten Sohn Franz das Geschäft auf der Hauptstraße weiter. Die Erbinnen Katzenstein einigen sich mit der Witwe Jost außergerichtlich, so kam das Haus im Jahr 1948 wieder in den Besitz der Katzensteins zurück. Mit Anny Jost schlossen sie einen Mietvertrag ab. Am 31.01.1970 wurde das Textilgeschäft Jost geschlossen. Im Anschluss beherbergte das Haus die Spielzeugwarenfirma Seidel und nachfolgend eine Filiale des Drogeriemarktes Schlecker. Heute befindet sich in den Räumlichkeiten die Sparda Bank. 
Im Jahr 2016 verkaufte Gerd Voremberg, der Enkel David Katzensteins, das Haus.

Quellen Fotos: 
Foto Familie Katzenstein, Gerd Voremberg
Hauptstraße Viersen; KAV


Quellen Text: 
Heiratsurkunde Cusel Carl Frohsinn mit Hedwig Seligmann, Bochum Mitte NE. 520/1901, Stadtarchiv Bochum
Tagebuch des Israel Nußbaum, Lehrer und Kantor der jüdischen Gemeinde Viersen KAV 597 
Gewerbeakte 1906, KAV 972
Stadtarchiv Essen, Jutta von Rüden Ferner
HHStAW 365,687 Geburtsregister der Juden von Rhina (Haunetal) 1834 - 1938 https://arcinsys.hessen.de/arcinsys/detailAction?detailid=v2126667 
Gisela Ries, Und bin ich auch ein Israelit… Geschichte der Familie Moritz Fassbender aus Remagen, Remagen 2013
Interview Gerd Voremberg, Enkel David Katzensteins,
Zeitzeugenberichte
Schriftverkehr per Mail Prof. Fritz Jost, Enkel von Fritz Jost 
Reichsbürgergesetz, dritte Verordnung vom 14. Juni 1938, https://de.wikipedia.org/wiki/Reichsbürgergesetz vom 11.06.2019
KAV Meldekartei 1938, Fritz Jost
Bauakte Hauptstraße 137/139, Dr. Langen Immobilien, Gerd Voremberg
Akte KAV 4420, Akte KAV 6801, Akte KAV 6979
Sterberegister der Stadt Köln Ehrenfeld, Sterbeurkunde Nr. 201,1941, Louis Katzenstein
Sterberegister der Stadt Viersen Nr. 106 vom 14. Februar 1945, Fritz Jost
Ferdinand Dohr, Chronik der Viersener Juden, 1809-1942, Viersen 1965, Schriftenreihe Nr. 1
KAV Meldekarten 1919 David Katzenstein, Louis Katzenstein
LAV NRW REP 294/762
LAV NRW REP 201 Nr. 269
LAV NRW BR 336 Nr. 28/31/10238

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